Befindlichkeit in Zeiten von COVID-19

Der Text entstand anlässlich der „Corona-Konferenz“ des Netzwerks dott – Dortmunder Tanz- und Theaterszene28. Juni 2020 // Christoph Rodatz 

Beschreibung der Situation am 28. Juni 2020

Die Monate seit Mitte März, als auch in Deutschland COVID-19 dafür sorgte, dass soziale Kontakte im öffentlichen Leben weitreichend unterbunden wurden, haben vieles verändert. Wie in der ganzen Welt, werden auch in unserem Mikrokosmos der darstellenden Kunst wesentliche Voraussetzungen – wie zum Beispiel die gemeinsame Anwesenheit von mehreren Menschen in einem Raum – untersagt. 

Nach anfänglich meist im Rhythmus von 14 Tagen weitreichenden und durch Zuwachs an Erkenntnis oft grundlegenden Novellierungen von Verordnungen, beginnt Anfang Juni eine Zeit verhältnismäßiger Stabilität, eine Zeit der Öffnung und damit auch eine Zeit, die Theatermachen und -schauen wieder möglich erscheinen lässt. Durch die anstehende Sommerpause reagieren die meisten Spielstätten verhalten, so richtig losgehen soll es erst im September. Gleichzeitig herrschen viel Verunsicherung und Unklarheit darüber, was nach der Sommerpause überhaupt möglich sein wird. Noch stecken die Erkenntnisse über die wesentlichen Ansteckungswege in Kinderschuhen und die Krankheit erscheint noch als sehr bedrohlich, insbesondere für Menschen über Sechzig oder mit Vorerkrankungen.

Befindlichkeiten in Zeiten von COVID-19

Auch wenn es eigentlich banal ist, aber die Zeiten sind anstrengend. Zum Beispiel sind sie anstrengend, weil wir alle individuell immer mit der Gefahr konfrontiert sind, uns anstecken zu können. Sie sind anstrengend, weil unser privates Alltagsleben von völlig neuen Anforderungen geprägt wird: fehlende soziale Kontakte, Home-Schooling oder die existenzielle finanzielle Situation. Sie sind anstrengend, weil es keine Planungssicherheit gibt. Und nicht zuletzt sind sie anstrengend, weil wir nur bedingt das machen können, was wir am liebsten machen: künstlerisch-kreativ arbeiten. Im Deutschen gibt es ein Wort, von dem sich recht gut die Herausforderungen ableiten lassen, mit denen wir es gerade zu tun haben, insbesondere wenn es um das Theatermachen geht: Befindlichkeit

Dieses doppelsinnige Wort Befindlichkeit beschreibt zum einen meine Anwesenheit im Raum, ich bin in einem Raum befindlich. Zum anderen steht Befindlichkeit aber auch für meine Gestimmtheit, wie z.B. Wohlbefinden. Diese Kopplung von Anwesenheit und Gefühl ist die Grundlage theatralen Arbeitens: Akteur*innen und Publikum treffen aufeinander und dabei sind sie gemeinsam im Raum des Theaters befindlich und Befindlichkeiten in Form von Stimmungen und Gefühlen werden explizit auf der Bühne erzeugt und entfalten sich im Publikum. Gleichzeitig ist Befindlichkeit aber auch der Nährboden für das SARS-CoV-2-Virus und unseren emotionalen Umgang damit. Weil wir uns mit Anderen in einem Raum befinden, kann es sich übertragen. Und mit unserem Verhalten, schaffen wir Befindlichkeiten: die einen haben Angst, andere sind misstrauisch oder noch anderen ist alles egal. 

Für Hans Thies Lehmann ist die gemeinsame Befindlichkeit essentiell, wenn es um Theater geht. In seinem Buch Das postdramatische Theater schreibt er: 

„Theater heißt: eine von Akteuren und Zuschauern gemeinsam verbrachte und gemeinsam verbrauchte Lebenszeit in der gemeinsam geatmeten Luft jenes Raumes, in dem das Theaterspielen und das Zuschauen vor sich gehen. Emission und Rezeption der Zeichen und Signale finden zugleich statt.“ (Lehmann Postdramatisch, S. 12f)

Wenn in heutigen Zeiten die gemeinsam verbrauchte Lebenszeit nicht mehr stattfinden kann, weil in der gemeinsam geatmeten Luft nicht nur Zeichen emittiert werden, sondern auch Viren, dann wird Befindlichkeit als wesentlicher Faktor von Theater zur Herausforderung – manche würden auch Zumutung sagen. 

Löst man sich vom Theater als Begegnungsort und wechselt die Perspektive auf künstlerisches Arbeiten, so spielt auch hier Befindlichkeit eine große Rolle. Dazu will ich ein wenig ausholen. Wir Künstler*innen sind kreativ im Umgang mit von außen gesetzten Rahmungen und transformieren diese gekonnt in eigene ästhetische Formen: mit Dramentexten machen wir das gerne, manchmal auch mit feuerpolizeilichen Vorschriften oder mit technisch gesetzten Grenzen. Im März / April war das meine größte Zuversicht: ‚Uns werden schon anspruchsvolle Weisen einfallen, mit der Situation umzugehen‘, dachte ich damals. Ein Teil dieser Fähigkeit mit äußeren Rahmungen einen alternativen Umgang zu suchen, liegt auch an unserem demokratischen Selbstverständnis. So haben wir gelernt, dass wir mündige Bürger*innen sind und wir daher auch mal Grenzen und Vorschriften verantwortungsvoll übertreten können und müssen, wenn es darum geht künstlerische Ideen oder ästhetische Ziele umzusetzen. In diesen Fällen sind wir mutig, Dinge anders zu machen und übernehmen für die Konsequenzen Verantwortung, weil wir die Situation einschätzen und überblicken können. Hierbei erheben wir den künstlerischen Wert über den Wert Regeln einzuhalten. 

Genau dieses Selbstverständnis erzeugt jetzt aber in Zeiten von COVID-19 ein riesen Dilemma. Wir können uns nicht vom Virus demokratisch oder kreativ emanzipieren. Es bringt auch nichts, ihm einen mündigen oder ästhetischen Stinkfinger zu zeigen. Ein kreativer Umgang mit Verordnungen, Erlassen sowie anderen Regeln unterläuft deren existenziellen Zweck, kann zu mehr COVID-19 Fällen und im schlimmsten Fall zu Todesfällen führen. Die meist intuitiv formulierte und in den letzten Wochen oft gehörte Frage: ‚Komm, wir kennen uns doch, kannst Du nicht vielleicht mal eine Ausnahme machen‘, zeigt wie eingefleischt unsere Verhaltensmuster sind. Dummerweise befördern unsere Mündigkeit und die Annahme, Gefahren einschätzen und überblicken zu können, dass wir gerne nach individuellen (vielleicht auch egoistischen oder unsolidarischen) Wegen suchen. Wir gehen davon aus, dass uns und anderen schon nichts passieren wird und wir wissen, dass die neuen Anforderungen mit einem unüberschaubaren Mehraufwand verbunden sind. Wir mussten lernen und lernen noch, dass es nicht nur um die Frage geht, ob mir etwas passieren kann oder wie ich mein Arbeiten effektiver gestalten kann, sondern am Ende geht es darum, dass ich mit meinem Handeln Verantwortung für Leben und Tod übernehme. Und genau das führt uns wieder zur Befindlichkeit. Denn wenn die gemeinsame Befindlichkeit in einem Raum ein wesentlicher Faktor von Theater und der Übertragung des Virus ist, wird mir eben nicht nur die zwischenmenschliche Grundlage meines Tuns unter den Füssen weggerissen, sondern gleichzeitig ist mein Wohlbefinden als Künstler sowie als Zuschauer grundlegend verunsichert.

Und so kommt – zumindest bei mir – die Frage auf: Kann und will ich unter diesen Bedingungen überhaupt noch Theater machen oder schauen? Will ich das noch, wenn Befindlichkeit zum Problem wird? Will ich das noch, wenn ich mich auf Grund eines Virus unwohl fühle? Will ich das noch, wenn ich mich ständig fragen muss, ob die sehr bewegten und laut sprechenden Akteur*innen auf der Bühne mich anstecken könnten? Oder überspitzt ausgedrückt: Will ich noch Theater machen oder schauen, wenn der Tod immer mit anwesend ist, und das nicht nur als Stimmung oder als Figur auf der Bühne, sondern ganz real?

So viel traue ich mich als Antwort zu sagen: Es ist im öffentlichen Interesse – besonders in Krisenzeiten, dass kulturelles Leben stattfindet. Denn dieses trägt wesentlich zu unserer Befindlichkeit und zu unserem Wohlbefinden bei. Wir wollen uns amüsieren, wir wollen nachdenken, wir wollen uns ärgern oder mit anderen zusammen unterhalten werden. Unter den aktuellen sich fast täglich wandelnden Bedingungen, durch neue Erkenntnisse und daraus resultierende Verordnungen, ist das aber verdammt schwer. Die Planungen, konzeptionellen Anpassungen und Änderungen von Projekten sind herausfordernd. Wir sind massiv von amtlicher Seite, als auch in finanzieller Weise auf Unterstützung angewiesen, um uns an die aktuelle Lage anpassen zu können und auch darin wieder eine Sicherheit zu bekommen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Noch nie waren kulturelles und künstlerisches Arbeiten so existenziell.